„Die Ur-Menschen wollten saufen“

Du erfährst in diesem Text Folgendes:

Begegnung mit einem Unbekannten
Die Entstehung der Sesshaftigkeit
Die These von Josef H. Reichholf
Die Region des fruchtbaren Halbmonds
Die Entwicklung des sesshaften Lebensstils
Die Rolle von Überfluss
Die Bedeutung des gemeinsamen Biergenusses
Die Kultstätte Göbekli Tepe

Begegnung mit einem Unbekannten

Neulich im Zug habe ich eine Geschichte gehört, die mir ein unbekannter Mitreisender erzählte. Ich war auf dem Weg zu einem Bierseminar und habe aus Langeweile ein Gespräch angefangen. Der Typ war etwa um die fünfzig und hatte eine stämmige Figur, kurze dunkelblonde Haare und eine hohe Stirn. Er erinnerte mich an jemanden. Ich kam aber nicht darauf.

Seine Augen zeigten einen schelmischen Glanz. Dass sich in seinem Gesicht zahlreiche Mimikfalten eingebrannt hatten, war ein Zeichen dafür, dass er wohl im Laufe der Jahre sehr viel gelacht hatte. Nach dem üblichen Geplänkel erzählte er mir, dass er Comedian sei. Klasse, dachte ich. Da hast du den perfekten Unterhalter gefunden. Ich bat ihn, etwas aus seinem Programm zu bringen. Und so gab er die Story zum Besten, die in etwa so ging.

„Hast du jemals darüber nachgedacht, warum Menschen sesshaft wurden? Ich habe da dieses Buch gelesen – ja, ich lese tatsächlich, überraschend, oder? Und dieser Typ, Mark Forsyth, hat da so eine Idee…“ Der unbekannte Comedian lächelte und nahm einen Schluck aus seiner Bierdose. „Stell dir vor, du bist in der Steinzeit, jagst vielleicht eine Antilope oder so, und plötzlich denkst du: ‚Weißt du, was jetzt richtig gut wäre? Ein kühles Bier!’“ Er schaute mich an und verlangte wohl nach einer Reaktion meinerseits. Aber ich grinste ihn nur breit an und deutete mit einem Nicken an weiterzuerzählen. „Vielleicht hat dieser Mark recht. Vielleicht wurden wir, also die Menschheit, nur sesshaft, weil wir…saufen wollten. Klingt wie ein Plan, oder? Wieso sich abrackern und Tiere jagen, wenn man einfach zu Hause bleiben und trinken kann?“ Er grinste verschmitzt. „Das nächste Mal, wenn du ein Bier trinkst… denk an deine betrunkenen Vorfahren und sag …“ In diesem Augenblick ging sein Telefon. Er hatte offenbar seinen Agenten dran. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Wieso fällt der Gig“ aus, fragte er verärgert. Dann stand er auf und ging den Zug in Richtung Bordbar. Kurze Zeit später hatte ich mein Ziel erreicht und stieg aus, ohne ihn wiederzusehen.

Die Rolle des Bieres in der Entstehung der Sesshaftigkeit

An der Theorie, dass Bier eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der sesshaften Lebensweise des Menschen gespielt hat, ist was dran. Der erwähnte Wissenschaftsjournalist Mark Forsyth hatte in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Trunkenheit“ geschrieben, dass der neolithische Mensch vor rund 12.000 Jahren nicht primär sesshaft wurde, um Ackerbau zu betreiben, sondern um das nahrhafte Bier zu brauen – oder wie Forsyth es selbst formulierte: „..weil die Menschen saufen wollten“.

Die These von Reichholf: Bier als Zentrum der Sesshaftigkeit

Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf hat als erster diese These aufgestellt. In seinem Werk „Warum die Menschen sesshaft wurden“ eröffnete er die Diskussion um die Sesshaftigkeit des Menschen, die das Bier ins Zentrum stellte. Reichholf ist überzeugt, dass nicht der Mangel an Wild oder der Bedarf an Getreide die Menschen zur Landwirtschaft brachte, sondern das Verlangen nach vergorenem Getreide. Das erste kultivierte Getreide war nicht Weizen, sondern Gerste, die heute noch primär zum Bierbrauen verwendet wird. Bier spielte eine zentrale Rolle, wie andere Drogen und Rauschmittel, die in verschiedenen Kulturen ihren festen Platz hatten und haben, sei es durch Pilzdrogen, Hanf oder Hopfen.

Die Region des fruchtbaren Halbmonds: Ideale Lebensbedingungen

Im sogenannten fruchtbaren Halbmond (von Israel über die Südtürkei bis in den Iran) lebten die Menschen im Überfluss. Diese Region bot ideale Lebensbedingungen für die Jagd durch seine vielfältige Tierwelt und abwechslungsreiche Landschaft, die von Flüssen wie dem Tigris und Euphrat genährt wurden. Die Kombination aus Wäldern, Wiesen und Flussauen schuf viele Jagdmöglichkeiten, während die Wasserquellen Tiere anzogen und so die Jagd erleichterten. Diese Faktoren machten die Region zu einem fruchtbaren Jagdgebiet und trugen zur Entwicklung der frühen menschlichen Zivilisation bei.

Die Entwicklung des sesshaften Lebensstils und die neolithische Revolution

Für diese Menschen stand Bier im Mittelpunkt. Die Herstellung und Lagerung erforderte spezielle Behältnisse, was zur Entwicklung von Tontöpfen und einer reduzierten Mobilität führte. Dies könnte den Übergang von einem nomadischen zu einem sesshaften Lebensstil begünstigt haben, der sogenannten neolithischen Revolution. Dieser Prozess begann vor etwa 12.000 Jahren und erstreckte sich über mehrere Jahrtausende.

Kritik an der traditionellen These und die Rolle von Überfluss

Die traditionelle These besagt, dass die Menschen sesshaft wurden, weil sie angesichts des knapper werdenden Wilds eine neue Nahrungsquelle in Form von Getreide suchten. Reichholf kritisiert diese Theorie, da sie nicht schlüssig erklärt, wie ganze Familien von den ersten Formen des Getreides ernährt werden konnten. Er hebt den Überfluss hervor, den die Menschen erlebten – es gab genug Wild, ergänzt durch Nüsse, Beeren und Vogeleier.

Kultstätten und die Bedeutung des gemeinsamen Biergenusses

Reichholf argumentiert weiterhin, dass die ersten festen Bauten der Menschen keine reinen Unterkünfte waren. Sie dienten als Kultstätte, als Orte des gemeinsamen Feierns und des Biergenusses. Eine solche Kultstätte stellt den Übergang von einer rein biologischen Entwicklung zu einer kulturellen dar, die die Geschichte der Menschheit von ihren Wurzeln bis zur Gegenwart prägte. Es ist eine Geschichte, die das Wesen des Menschen aufzeigt: die Neugier, der Wunsch nach Genuss und die Fähigkeit, in Gemeinschaft zu leben.

Die Kultstätte Göbekli Tepe

Am Berg Göbekli Tepe schufen Jäger und Sammler vor 11.000 Jahren die weltweit erste sakrale Stätte. Diese Kultstätte ist ein Beweis für ihre Religiosität, ihren Fortschritt und markiert einen Wendepunkt in der Geschichte. Das Gelände, welches 300 x 300 Meter misst, beherbergt 200 T-förmige Kalksteinsäulen, die jeweils über vier Meter hoch sind.

In einigen der entdeckten Räume stieß die Archäologen auf große Steingefäße. Diese Gefäße hatten eine Kapazität von bis zu 160 Litern, wie der wissenschaftliche Mitarbeiter im Göbekli Tepe-Projekt des Deutschen Archäologischen Instituts, Jens Notrof, der FAZ (10.08.2018) erzählte: „In einigen dieser Behälter entdeckten wir Ablagerungen, die wir gemeinsam mit Martin Zarnkow vom Forschungszentrum Weihenstephan der TU München analysierten. Die Untersuchungen ergaben Spuren von Oxalat, im Volksmund als Bierstein bekannt. Dies weist auf einen Fermentierungsprozess hin. Obwohl nicht unbedingt Getreide die Quelle sein muss, spricht vieles dafür, dass es sich um frühes Bier handeln könnte. Der Göbekli Tepe befindet sich in der Region, wo die Hauptanbaugebiete neolithischer Getreidesorten liegen. Tatsächlich wurde eine der ersten Domestizierungen von Getreide am Karacadağ, einem nahegelegenen Schildvulkan, nachgewiesen.“

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